Rede von Kerstin Köditz zum Tag der Befreiung am 8. Mai

Rede von Kerstin Köditz (unsere Abgeordnete im Sächsischen Landtag): 

Vergangene Woche berichtete Jason Stanley, amerikanischer Philosoph und Faschismus-Forscher, selbst Nachkomme von Holocaustüberlebenden, einen Witz, der gegenwärtig in der Ukraine kursiert. In diesen traurigen Zeiten kann es nicht schaden, ab und zu mal zu lachen. Trotzdem zu lachen. Hier ist der Witz also:
Begegnen sich in der Innenstadt von Kiew zwei Männer mittleren Alters. Der eine stürzt auf den anderen zu und schreit ihn an: „Du bist ein Faschist, ein Bandera-Mann!“ Der zweite nickt traurig und erwidert: „Du hast recht. Unsere ganze Synagoge ist jeden Tag voll von Leuten wie mir.“ Irgendwie ist mir das Lachen im Halse stecken geblieben.

Es ist heute der Tag der Befreiung vom Faschismus. Es ist der Jahrestag des Endes eines schrecklichen Krieges. Nur in Europa allerdings. In Asien wurde noch einige Monate länger gekämpft, starben weiterhin Soldaten und vor allem Zivilisten. Erst mit dem Schrecken der Atombombe hatte der Schrecken des Krieges ein Ende. Vorübergehend. Heute erleben wir erneut Krieg mitten in Europa. Wir hier in Deutschland in sicherer Entfernung und – bisher – nur in abstrakter Gefahr. In der Ukraine dagegen sterben die Menschen tatsächlich. Soldaten, Zivilisten, auch Kinder. Und wieder einmal geht es um Faschismus. Zumindest in der Kriegspropaganda. Der Krieg, so will es diese Propaganda, ist gar kein Krieg. Es handele sich um eine „Spezialoperation“. Diese müsse durchgeführt werden, um einen „Völkermord“ zu verhindern. Es gehe darum, die Ukraine zu „entnazifizieren“, sie zu „befreien“.

Die Ukraine entnazifizieren? Ist der Präsident dieses Landes nicht selbst ein Jude?
Ein faschistischer Staat mit einem Juden an der Spitze? Wie soll das gehen? Der russische Außenminister Lawrow hat die Antwort parat: Auch Hitler habe jüdisches Blut gehabt. Seine verbrecherische Politik habe er durchgeführt, damit die Juden als angebliche Opfer Nutzen daraus ziehen. Die Geschichte ist keine Erfindung von Lawrow. Sie stammt von dem führenden Nazi-Verbrecher Hans Frank.

Kommen wir von der Propaganda zu den Fakten: Trotz Vereinigung aller relevanten faschistischen und neonazistischen Parteien bei den Parlamentswahlen 2019, den letzten bisher, schrumpfte deren Anteil um 4,3 Prozent beziehungsweise sank von etwas über einer Millionen Stimmen auf nur noch 315.530. Das sind ganze 2,1 Prozent der Stimmen. Für alle extrem rechten Parteien zusammen! Lasst es mich klar und deutlich sagen: Ich wäre ja heilfroh, wenn sich der Stimmenanteil der AfD auf diesem Niveau bewegen würde. Bei uns in Sachsen aber liegt die Zustimmung zu dieser Partei der extremen Rechten gegenwärtig bei dem zwölffachen Wert davon. Wenn die Ukraine mit diesem Stimmanteil an Faschisten ein faschistischer Staat ist, was ist dann bitte Sachsen?

Die Zahl der antisemitischen Vorfälle in der Ukraine ist übrigens in den vergangenen Jahren langsam und stetig zurückgegangen. Das Land gehört zu jenen in Europa mit den niedrigsten Werten für Antisemitismus. Wenn ich das alles so höre, dann komme ich mir ein wenig vor wie in George Orwells Roman „1984“. Aus dem Propagandaministerium wird dort das Wahrheitsministerium, aus dem Kriegs- das Friedensministerium. Natürlich: auch Propaganda ist eine Waffe. Eine sehr wirksame Waffe. Gerade im Krieg. Gerade wir aber sollten doch gelernt haben, zwischen Propaganda und Realität zu unterscheiden. Wir lächeln doch auch nur noch müde, wenn wir etwas von „blühenden Landschaften“ hören.

Wir feiern heute den Jahrestag der Befreiung. Den Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus. Und wir werden natürlich nie vergessen, dass wir diese Befreiung zu einem Löwenanteil der Sowjetunion und der Sowjetarmee zu verdanken haben. Und natürlich sagen wir deshalb ein lautes, ein unüberhörbares: Danke!
Wir werden auch nie vergessen, dass die Sowjetunion den Hauptlast dieses Krieges, dieses Überfalls durch Nazi-Deutschland zu tragen hatte. Wir werden ebenso nie vergessen, dass durch diesen Überfall mehr als 27 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion umkamen. Ich erinnere an dieser Stelle nur an das Kriegsverbrechen der 900 Tage dauernden Belagerung der Stadt Leningrad. Allein dabei starb mehr als eine Million Menschen elendiglich. Das alles darf nie vergessen werden! Daran denken wir, wenn wir auch heute noch sagen: „Nie mehr Faschismus! Nie wieder Krieg!“ Daran denken wir, wenn wir den Schwur von Buchenwald zitieren, dass wir nicht eher ruhen werden, bevor nicht der Faschismus mit seinen Wurzeln ausgerottet ist.

Aber zu dieser historischen Wahrheit gehört auch die Tatsache, dass das Russland von heute nicht einfach irgendwie eine verkleinerte und veränderte Fortsetzung der Sowjetunion ist. Ganz und gar nicht. Wir haben die Pflicht zur historischen Erinnerung. Und wir haben die Pflicht zu einer sachgemäßen Analyse des heutigen Russland und seiner Politik. Zur Roten Armee, der Sowjetarmee, die wesentlich zu unserer Befreiung beigetragen hat, unter ungeheuren Opfern beigetragen hat, gehörten eben nicht nur Russen. Es war eine Vielvölkerarmee mit Weißrussen, Kirgisen, Kasachen, Georgiern – und eben auch Ukrainern. Die heute russische Armee ist die Armee eines normalen imperialistischen Staates. Sie dient imperialen und imperialistischen Interessen. Putin ist nicht der Generalsekretär einer etwas veränderten Kommunistischen Partei der Sowjetunion, sondern er ist ein nahezu autokratisch regierender Präsident Russlands, das längst ein ganz normaler kapitalistischer und imperialistischer Staat geworden ist. Ein Staat übrigens, der in keiner Weise mit den Werten von Menschen kompatibel ist, die sich irgendwie als links verstehen. Ein Staat, der Werte wie Emanzipation und Selbstbestimmung mit Füßen tritt. Ein Staat, der politische und kulturelle Opposition tagtäglich brutal unterdrückt.

Aber es gibt doch die noch immer starke Kommunistische Partei der Russischen Föderation! Richtig! Die gibt es. Aber zur bitteren Wahrheit gehört auch, dass diese Partei schon längst nur noch dem Namen nach eine kommunistische ist, dass sie noch nicht einmal mehr eine linke Partei ist. Sie existiert noch, weil sie bedingungslos die Politik von Putin unterstützt. Es gibt weiterhin auch in Russland eine Vielzahl linker, meist kleiner Gruppen, die für die Emanzipation der Unterdrückten kämpfen.
Sie verdienen und brauchen unsere Solidarität. Die Kommunistische Partei verdient sie nicht. Putin verdient sie nicht. Ganz und gar nicht.

Nun gibt es unter den sogenannten Fachleuten im Westen natürlich auch einige, die die Ansicht vertreten, es gehe Putin um die territoriale Wiederherstellung der ehemaligen, längst zerfallenen Sowjetunion. Sie bedienen damit das alte Feindbild „Russland“, sie bedienen den alten Antikommunismus, sie bedienen das alte Bild vom „Feind im Osten“, den es abzuwehren gelte. Blödsinn, nichts als Blödsinn! Putin geht es um nichts anderes als um die Wiederherstellung des alten Zarenreiches.
Antikommunist ist er selbst. Lenins Recht auf Selbstbestimmung der Völker bezeichnet er als riesigen Fehler. Unverhohlen gesteht er ein, dass auch Finnland auf seiner Wunschliste steht. Seine ideologischen Leitbilder Sind reaktionäre Denker aus der zaristischen Ära oder solche, die die Bolschewiki als Feinde des Sozialismus
und die Emigration getrieben hatten.

Der wohl wichtigste unter ihnen ist Iwan Alexandrowitsch Iljin, ein Reaktionär, ein Monarchist, ein strenggläubiger russisch-orthodoxer Christ, in der Emigration Bewunderer des italienischen Faschismus, Verfasser wüst antikommunistischer Werke. Das bekannteste davon mit dem Titel „Entfesselung der Unterwelt“, geschrieben zusammen mit einem glühenden Nazi unter dem Pseudonym Julius Schweickert. Das war der Name seines deutschen Großvaters.

Die Nazis hatten die Propaganda auf eine neue Stufe gehoben. Wir als Antifaschistinnen und Antifaschisten haben die Aufgabe, Propaganda zu entlarven.
Wo immer sie auftritt. Egal wer sie betreibt. Teil dieser Aufgabe ist es heute klarzustellen, dass Putins Versuch, sich und seine Politik in die Tradition der Roten Armee und der Sowjetunion zu stellen nichts anderes als verlogene Propaganda ist.

Am 18. März 2022 wurde Boris Romanschenko, ehemaliger Häftling in den Konzentrationslagern Peenemünde, Nordhausen-Dora, Bergen-Belsen und Buchenwald, Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos für die Ukraine, Opfer eines russischen Bombenangriffs auf sein Wohnhaus im ukrainischen Charkiw. Er konnte den 77. Jahrestag der Selbstbefreiung von Buchenwald am 11. April nicht mehr miterleben. Im Gedenken an ihn, im Gedenken an die Häftlinge von Buchenwald, im Gedenken an ihren Schwur, im Gedenken an die Millionen Toten dieses verbrecherischen Krieges fordern wir deshalb:

Die Waffen nieder!
Der Krieg gegen die Ukraine muss sofort beendet werden!
Die russischen Truppen müssen sich sofort zurückziehen!

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